Motorrad Halbe Kraft, volles Programm
Von Walter Wille
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Für Ducati-Einsteiger: Multistrada 620
27. August 2005 Es gibt ein Leben unter 100 PS. Man vergißt das nur allzuleicht im Zeitalter der Brutale, der Fireblade oder Speed Triple. Solche Kraft-Ungetüme mit hohen dreistelligen Muskelkennziffern sind natürlich schon beeindruckend und machen was her beim sonntäglichen Bikertreff auf dem Großen Feldberg. Aber mit einer kleineren Maschine läßt sich's ebenfalls gut leben, vielleicht sogar länger, und der Spaß muß keineswegs zu kurz kommen. Vor allem, wenn sie so vielseitig ist wie die Ducati Multistrada 620.
Das ist sozusagen das Schweizer Messer unter den Motorrädern, für jede Gelegenheit das passende Werkzeug. Nur ein Korkenzieher ist nicht dran. Der Name der neuen, kleinen Multistrada (eine 1.000er-Version gibt es schon länger) ist Programm. Wegen ihres breiten Einsatzspektrums lernt man sie schnell schätzen: gemütlich bollernd beim Zockeltempo auf der Landstraße einerseits. Andererseits aber in der Lage, jederzeit röhrend umzuschalten auf die rasante Gangart, äußerst agil in ihrem Lieblingsrevier, dem Hinterland mit Kurven aller möglicher Radien. Dazu beweglich in der Stadt, tauglich für die Autobahn und komfortabel gefedert. Enduro, Tourer, Sportler - von allem steckt was drin in dem italienischen 202-Kilo-Allrounder mit dem auffällig anderen Design, dem guten Fahrwerk und dem herzhaften V2-Motor.
63 PS und 185 km/h Spitze
Der luftgekühlte Einspritzer mit dem charakteristischen 90-Grad-Winkel steckt in einem für Ducati nicht minder typischen Stahl-Gitterrohrrahmen. Er leistet 46 Kilowatt (63 PS) bei 9500/min und schickt bei 6750/min ein Drehmomentmaximum von 56 Newtonmeter ans Hinterrad. Die Leistungsabgabe vollzieht sich harmonisch und berechenbar, führt im äußersten Fall zu einer Höchstgeschwindigkeit von rund 185 km/h (der Digitaltacho meldet dann fast 200). Wir haben - abgesehen von Momenten auf der linken Autobahnspur - kein einziges weiteres PS vermißt, aber im Sattel über dem dicken Doppelrohr-Schalldämpfer gelegentlich an Adriano Celentano ("Azzurro" denken müssen, was zunächst ein Rätsel war.
Eine "620" als Hinweis auf den Hubraum steht nicht dran, und das ist ganz gut so. Die 8.645 Euro kostende Ducati wirkt schön erwachsen und erntet anerkennende Blicke. Ein Liebling für jedermann ist sie dennoch nicht, sie hat ihre Eigenarten, mit denen es sich zu arrangieren gilt. Wegen des hohen Hecks muß man beim Auf- und Absteigen das Bein kräftig schwingen, sonst touchiert man den hochstehenden Soziusgriff wie der Wallach den Oxer. Die angenehme, aufrechte Sitzhaltung ist sehr auf das Vorderrad konzentriert. Der Motor erwacht ohne Verzögerung, benötigt aber eine ganze Weile, bis er Betriebstemperatur erreicht. Läßt man die Kupplung kommen, ruckt es erst spät ein, was wir nach zweimal Abwürgen schließlich begriffen hatten; es hapert mit der Dosierbarkeit, dafür geht der Kupplungshebel butterweich.
Scheibe schützt vor Regen
Die sechs Gänge lassen sich gut sortieren, beim nachlässigen Schalten indes springt schon mal einer heraus. Auf der Suche nach dem Leerlauf stochert man mitunter im Getriebe herum, die Kontrolleuchte ist kein Vorbild an Zuverlässigkeit. Die Bremsen (kein ABS) machen einen ordentlichen Eindruck, schade, daß weder Kupplungs- noch Bremshebel einstellbar sind. Das wird im Fall der Upside-down-Gabel im Alltag kaum vermißt, das Federbein läßt sich in Federbasis und Zugstufendämpfung anpassen. Prima ist die recht hohe, lenkerfest montierte Scheibe, sie bietet guten Schutz vor Wind und Wetter. Dennoch wünscht man sich, daß die Strada immer trocken und sauber sein möge, schon deshalb, weil das Motorrad mangels wirksamen Schutzes vorn und hinten sehr schnell sehr gründlich verschmutzt.
Übersichtliches Cockpit
Sparsam ist das Cockpit ausgestattet: Hier dominiert der große Drehzahlmesser ohne roten Bereich, den man nach einer Weile kaum noch zu Rate zieht, weil auch so zu spüren ist, was los ist: Im Drehzahlbereich unterhalb von 2.200/min schüttelt sich der Motor unwirsch, zwischen 3.000 und 4.000 Umdrehungen erfaßt ein Zittern die Rückspiegel, und die Instrumententafel schwirrt, daß die Ziffern tanzen. Ab 4.000 vollzieht sich die Kraftentfaltung äußerst geschmeidig, dann herrscht pure Fahrfreude. Der Verbrauch - in unserem Fall 5,2 bis 6,5 Liter Super auf 100 Kilometer (letzteres bei gehobenem Autobahntempo) - verdirbt die Laune nicht. Im Gegenteil, man hat das Gefühl: Das hat der Motor sich verdient, dieser kernige Charakterkerl.
Womit man gerade noch die Kurve kriegt zu Adriano Celentano und der Frage, was der mit dieser Ducati zu tun hat. Wahrscheinlich gar nichts. Es ist nur so, daß beide nicht singen können, aber eine tolle Stimme haben. Eine bessere Erklärung fällt uns nicht ein, scusi.
Quelle: FAZ-Online